From Afar

From Afar

Die Ansätze, die Víkingur Ólafsson bei seinen Alben verfolgt, sind stets fantasievoll. Auf dem 2018 erschienenen „Johann Sebastian Bach“ platzierte er inmitten großartiger Transkriptionen von Kantatensätzen und Orgelwerken „Aria variata“, das vernachlässigte Meisterwerk des Komponisten für Tasteninstrumente. 2020 stellte er auf „Debussy – Rameau“ die Musik der beiden französischen Komponisten gekonnt gegenüber, während er auf „Mozart & Contemporaries“ 2021 einige von dessen tiefgründigsten Soloklavierwerken faszinierend kontextualisierte. Mit „From Afar“ lernen wir nun den Menschen Víkingur Ólafsson kennen. Jeder Track gibt wertvolle Einblicke in das, was einen der spannendsten Musiker:innen unserer Zeit antreibt. Das Album ist ein zutiefst persönliches Projekt und verknüpft zweierlei: eine eingehende Auseinandersetzung mit seiner musikalischen Erziehung und eine Hommage an den großen ungarischen Komponisten und Pianisten György Kurtág, die auf eine ergreifende Begegnung im Jahr 2021 zurückgeht. Ólafsson beschreibt sein Treffen mit Kurtág in leiser Ehrfurcht. „Wir hatten zwei oder drei Stunden lang eine unglaubliche musikalische Verbindung“, sagt er gegenüber Apple Music. „Wir haben nicht viele Worte gewechselt, aber alle waren sie großzügig und nett. Und dann habe ich einfach angefangen, für ihn zu spielen.“ Neben Werken von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und isländischen Volksliedern spielte Ólafsson auch drei Lieder aus „Csìk“, einer Sammlung von Volksliedern eines der größten Komponist:innen des 20. Jahrhunderts, Kurtágs ungarischem Landsmann Béla Bartók. „Als ich fertig war, sagte Kurtág das Netteste, was je jemand zu mir gesagt hat: ,Du spielst Bartók, als wäre das deine Muttersprache.‘ Als ich das von György Kurtág hörte, dachte ich mir: ‚Okay, jetzt darf ich Bartók spielen!‘“ Die Musik von Bach, die schon seit Langem mit Kurtág assoziiert wird, bildet einen weiteren Eckpunkt des Albums. Jahrelang gab Kurtág zusammen mit seiner Ehefrau, der Pianistin Márta Kurtág, Konzerte mit Klavierduetten. „From Afar“ enthält seine eigene Bearbeitung für ein Klavierduett des Eröffnungssatzes von Bachs „Triosonate Nr. 1“ für Orgel, wobei die untere Stimme von Ólafssons Frau Halla Oddný Magnúsdóttir übernommen wurde – als Hommage an Márta. „Márta hat mir gesagt, dass sie mein Bach-Spiel sehr schätzt“, sagt Ólafsson, „deshalb war es sehr schön, dieses Stück zusammen mit meiner Frau zu spielen.“ Selbst die auf den ersten Blick unpassendsten Stücke haben einen Platz in Ólafssons Geschichte gefunden, verbinden sich auf fantasievolle und oft reizvolle Weise: Thomas Adès’ „The Branch“ (eine Weltersteinspielung), das „Twittering“ aus Kurtágs „Játékok“ und Schumanns „Vogel als Prophet“ aus „Waldszenen“ besitzen etwa ein gemeinsames Wald-Motiv. „Aber es gibt noch ein anderes Element“, erzählt Ólafsson, „Thomas liebt Kurtág absolut. Er vergöttert ihn.“ Und auch Johannes Brahms ist sehr präsent, dessen Musik nicht nur 2009 auf Ólafssons Debütalbum auf seinem eigenen Label zu hören war, sondern dessen Besessenheit vom Kontrapunkt ihn und Bach zu einer perfekten Paarung macht. Die Fähigkeit der Musik, vielfältige Verbindungen zu schaffen, wird auch an anderer Stelle eindrucksvoll genutzt. Ólafsson liebt Sigvaldi Kaldalóns herrliches „Ave Maria“ seit seiner Kindheit. „Es ist ein sehr berühmtes Stück, das uns oft Trost spendet“, verrät er. „Es wird oft bei Beerdigungen und ähnlichen Anlässen gespielt. Aber man hört es immer in einer schwülstigen Version für Chor, Sopran und Orgel. Ich ziehe diese sehr intime Fassung vor.“ Ólafssons Aufnahme weckt jedoch auch Erinnerungen an jüngere, dunklere Tage. „Ich spielte dieses Stück während des ersten Lockdowns im Jahr 2020 live in der BBC-Radiosendung ,Front Row‘“, sagt er. „Alles ging drunter und drüber, und der Premierminister lag im Krankenhaus. Ich war allein in der Harpa-Konzerthalle hier in Reykjavík, sprach zu den Menschen in Großbritannien und spielte dieses Stück als Gebet für alle Opfer der Pandemie.“ Wie alle Stücke auf dem Album ist auch Kaldalóns „Ave Maria“ in zwei Versionen zu hören – einmal gespielt auf einem modernen Steinway-Flügel und einmal auf einem herkömmlichen Klavier mit seinen weicheren, klingenden Tönen. „Ich dachte eigentlich, dass die Flügel-Version dieses Stücks das beste Klangbild besitzt, das ich je auf einem Klavier erreicht habe“, sagt Ólafsson, „aber die Leute scheinen die Intimität und die außerordentliche Nähe zu lieben, die das Upright-Piano erzeugt. Es verleiht der Musik eine magische Qualität, macht sie zart und siedelt sie zwischen Realität und Surrealität an.“ Auf Deutsch bedeutet „From Afar“ so viel wie „aus der Ferne“. Doch der Klang von Ólafssons schönem, einfachen Klavier bringt ihn uns atemberaubend nahe. „Es ist ein bisschen so, als würde dir jemand ein Geheimnis ins Ohr flüstern“, fügt er an. „Man hört mich atmen und man hört das Klavier mit all seinen Unzulänglichkeiten. Den Leuten diesen Zugang zu meinem Spiel zu ermöglichen, ist ein wirklich interessantes Experiment.“

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